von Helga Maria Wolf (Austria Forum):
In den 1980er Jahren kursierte ein böser Witz: „Wo ist Wien am schönsten ? “ – „Am Dach des Neuen AKH “ – „???“ – „Da sieht man es nicht !“ Eine Generation später ist das Spital mit seinen 22-stöckigen Bettentürmen nicht das einzige „Grusel- haus“ (so damals der „Spiegel“) in Wien. Noch höhere Wolkenkratzer haben die innerstädtische Skyline verändert, manche bereichernd, manche störend.
Der Kunsthistoriker und MAK-Kustos Sebastian Hackenschmidt schreibt einleit- end zu seinem neuen, gemeinsam mit dem Fotografen Stefan Oláh geschaffenen Werk, die Frage, ob Wien Wolkenkratzer brauche, sei falsch gestellt. „Vielmehr gälte es zu fragen, welche Hochhäuser Wien haben sollte, wie sie sinnvoller Weise zu platzieren wären und wie und von wem sie genutzt werden könnten. Fragen, auf die die ‚Macht des Faktischen – also die in den letzten Jahren errichtete Bausubstanz – wohl kaum die bestmögliche Antwort gibt.“ Bilder und Texte beschönigen nichts. Häufig zitiert der Autor Friedrich Achleitner, einen der wichtigsten Kritiker und Chronisten der österreichischen Architektur. Er plädiert für „höchste stadträumliche Sensibilität.“
Das Buch „Sechsunddreißig Wiener Aussichten“ basiert auf der Idee von Schuss und Gegenschuss: Gezeigt werden jeweils das Bauwerk, das einen Aussichtspunkt markiert, sowie die sich von dort bietende Perspektive auf die Stadtlandschaft. Mit dem barocken Blick haben sie nur selten zu tun. Im Barock wurden die Bauwerke, die das Schauen als Erlebnis inszenierten, „Belvedere“ oder „Bellevue“ genannt: Von hier aus ließ sich der Blick in die Landschaft vortrefflich genießen. Zugleich waren sie selbst Attraktionen, in denen sich die „schöne Aussicht“ architektonisch manifestierte. In dem Prachtband finden sich solche als „Sehenswürdigkeiten“ etablierte Aussichten – wie der jetzt wieder viel zitierte Canaletto-Blick vom Belvedere oder der Blick von der Schönbrunner Gloriette. Berühmt waren und sind auch die Ausblicke vom Stephansturm, Kahlenberg, Cobenzl, Lusthaus im Prater, Steinhof, Rathaus … Neue und neueste Perspektiven erschließen sich etwa von Aussichtswarten (Jubiläumswarte, Habsburgwarte, Paulinen- warte, oder dem schon wieder demolierten „Bahnorama“ beim Hauptbahnhof), Dach- terrassen und Restaurants (Haas-Haus, Donau-City-Tower, Justizpalast, Millenium-Tower, Sofitel, Hochhaus in der Herren- gasse, ÖBB-Zentrale, Ibis-Hotel, Haus des Meeres, Wohnpark Alt-Erlaa, Lassalle-Hof, Donauturm …) szenischen Brücken (im Stadtpark, Steinitzsteg … ) oder der Höhenstraße. Höhepunkt und Abschluss bildet die Aussicht vom Skyspace in Pötzleinsdorf. In der MAK-Außenstelle Geymüller-Schlössel hat ein Kunstwerk von James Turell seinen Aufstellungsort gefunden. Die Aussicht von „The Other Horizon“ zeigt den Himmel, „wechselweise als monochrome Bildfläche oder als Farbraum unbestimmter Tiefe.“
Dies trifft sich mit den vorange- stellten Erinnerungen von Friederike Mayröcker, die als 17-Jährige durch die Aussicht vom Leopoldsberg tief berührt war: „… dieser Blick auf die Stadt: diese Sonne, wie sie scheint und royal scheint, also oben …“ Der „Berliner Mediendarling“ („Die Zeit“) Friedrich Liechtenstein steuert den Text „Elevation“ bei, der Philosoph Walter Seitter schreibt über „Ansicht, Aussicht“. Die Kunst- und Kulturhistorikerin Sabine Lata bringt einen informativen Überblick zu „Wien in alten Ansichten“. Der Architekt und Fotohistoriker Harald R. Stühlinger erläutert einprägsam die „Topographische Fotografie in Wien.“
Jeder „Aussicht“ ist ein Text in deutscher und englischer Sprache von Sebastian Hackenschmidt vorangestellt. Dann zeigt ein stilisierter Plan die Lage des Aussichtspunktes und die Richtung des Panoramas, ehe das großartige und großformatige (Buchformat: 29 x 29 cm) Bilderpaar seine Aussagekraft entfaltet. Auf der Schauseite, nahezu formatfüllend breit die Aussicht, links, fast quadratisch und mit viel weißem Rand das Gebäude, von dem sie aufgenommen wurde. Dieser „Raum für die Gedanken“ ist nicht die einzige Assoziation zu japanischer Kunst. Sie wirkte auch inspirierend für die Titelwahl des Buches.
Um 1830 schuf Katsuhika Hokusai seine berühmten „36 Ansichten des Berges Fuji“. Drei dieser Farbholzschnitte zeigen Aussichtsplattformen, von denen das Betrachten des heiligen Berges als Ereignis inszeniert wurde. 1902 gab der franz- ösische Künstler Henri Rivière 36 Farblitho- graphien mit Ausblicken vom Eiffelturm heraus. Schon 1785 waren im Verlag Artaria kolorierte Ätzradierungen von Carl Schütz, Johann Ziegler und Laurenz Janscha als erste Folge der „36 Ansichten der Residenzstadt Wien“ erschienend. Die modernen „sechsunddreißig Wiener Ansichten“ stehen in der Tradition dieser Veduten und fügen sich würdig in die Reihe der fotografischen Bildbände des 20. und 21. Jahrhunderts ein. Es „sind die hier versammelten Aufnahmen keine subjektiven, expressiven oder künstlerisch-experimentellen Fotografien, sondern sachlich-nüchterne Bestandsaufnahmen von urbanen Situationen“, die Einblick in die politische Stadtlandschaft Wiens zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ geben
Dank an Helga Maria Wolf (Austria Forum)