von Norbert Philipp (Die Presse)
Die Stadt, eines der reizvollsten Felder für die Psychogeografie. Vor allem, weil sie so dicht an Reizen ist: Alles, was uns umgibt, ob gebaut oder schon immer da gewesen, lässt uns reagieren. Mit Gefühlen oder Verhaltensweisen. Nach oben schauen, das macht den Betrachter selbst klein, architektonisch ausdrücklich gewünscht in Gebäuden wie etwa Kathedralen. Nach unten schauen, das macht den Menschen groß. Kombiniert mit Weit-in-die-Ferne-Schauen schleicht sogar ein lustvolles Gefühl durch den Betrachter. Noch so eine Psychologie, die Evolutionspsychologie nämlich, erklärt, warum: In der Savanne, wo der Mensch zu jenem Menschen wurde, der heute hauptsächlich in Städten lebt, war guter Überblick eine Überlebensfrage. In Zeiten, in denen man eher in Stockbetten als auf Bäume klettert, sind oben noch immer die besten Plätze. Auch in den Häusern Wiens sind die Dachquadratmeter die begehrtesten, die teuersten. Von oben auf die Stadt schauen, das war lang Privileg, baulich manifestiert in Adelsarchitektur à la Gloriette oder Belvedere. Dann wurde das In-die-Ferne-Schauen im urbanen Raum zum Allgemeingut, als der Ausflug auf den Kahlenberg zum Teil der Freizeitkultur wurde. Und heute wird die Aussicht beinahe wieder zum Privileg, das man sich mit einer Dachgeschoßwohnung oder zumindest mit einem Cocktail in der Rooftop-Bar erkaufen muss.
Blickwinkel. Wien ist eine Aussichtsstadt. Und eine Metropole der Blickbeziehungen. Zahlreiche Beispiele der Vedutenmalerei und später der Stadtfoto- grafie bezeugen das. Und jetzt auch ein Buch, das im Anton-Pustet-Verlag er- schienen ist, nach einer Idee von Sebastian Hackenschmidt. Ein Konzept, das sich von einer Grundthese aus entfaltet, wie Hackenschmidt schreibt: „Aussichten werden architektonisch vermittelt.“ Und dieser Ansicht zur Aussicht näherte sich Stefan Oláh für das Buch „Sechsunddreißig Wiener Aussichten“ fotografisch eben genau 36 Mal.
Schon die Topografie Wiens begünstigt das Hinauf- und Hinunter- schauen. Und noch dazu erheben sich in der Stadt und ihrer Umgebung eine Vielzahl an Architekturen, die Ausblicke versprechen. Manche dieser Bauwerke sind dezidiert dem Schauen gewidmet. Wie die Jubiläumswarte auf dem Gallitzinberg im Wienerwald etwa. Andere, wie der Wasserturm in Favoriten, immerhin 67 Meter hoch, dienten anderen Zwecken. Als Knotenpunkt des öster- reichischen Richtfunknetzes beispiels- weise, wie der nicht öffentlich zugängliche Turm im Arsenal, 155 Meter hoch. Infrastrukturbauten, Investorenarchitektur, sakrale Baukunst – Fotograf Stefan Oláh richtet den fotografischen Blick zunächst auf das Bauwerk, das den Ausblick ver- spricht. Um danach den Blick zurück auf die Stadt zu werfen.
Etwa vom Uhrturm im Gänsehäufel, mit seiner Aussichtsplattform in 21 Metern Höhe. Oder vom Südturm des Stephans- doms, aus einer Höhe von 120 Metern senkrecht auf das geografische Zentrum der Stadt. Die Perspektiven-Zwillinge generieren eine individuelle Stadtwahr- nehmung, die sich nun in Buchform den Stadtbewohnern, die davon selbst meist ausgeschlossen sind, eröffnet. Sebastian Hackenschmidt zitiert dazu Friedrich Achleitner: „In Wien ist die Unsitte eingerissen, dass zwar die Ansicht eines Hochhauses selbstverständlich auf die Kosten des kollektiven Stadtbildes geht, aber der Nutzen der neuen Stadtwahrnehmung, die Gunst des Standortes, die Aussicht, radikal privatisiert ist.“